Veranstaltung: | 01. Landesdelegiertenrat 2019 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen-Anhalt |
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Tagesordnungspunkt: | 2. Nach der Kohle kommt die Zukunft – den Strukturwandel erfolgreich gestalten |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | LDR |
Beschlossen am: | 22.07.2019 |
Eingereicht: | 17.07.2019, 14:05 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Kohleausstieg beschleunigen – echten Strukturwandel auf den Weg bringen
Beschlusstext
Die Empfehlungen der „Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“
(WSB)liegen auf dem Tisch und es muss festgehalten werden: Wir haben größten
Respekt vor der Leistung der in der Kommission beteiligten Umweltverbände und
Aktiven. Der nach schwierigen Verhandlungen erzielte Kompromiss ist der längst
überfällige Einstieg in den Kohleausstieg. Das wäre ohne die breite
Klimabewegung so nicht möglich gewesen.
Trotz des Erfolgs ist klar: Deutschland wird mit diesem Minimalkompromiss die
Pariser Klimaziele nicht einhalten können. Die im Abschlussbericht
festgeschriebenen Überprüfungspunkte (Revisionsklauseln) in den 2020er Jahren
müssen politisch genutzt werden, um sicherzustellen, dass die völkerrechtlich
verbindlichen Pariser Klimabeschlüsse erreicht werden. Außerdem sollten sie zum
Anlass genommen werden, um zu prüfen, welche CO2-Einsparungen andere
Wirtschaftszweige haben erreichen können und in welchen noch mehr zu erreichen
ist. Der eingeschlagene Weg muss nach den Revisionsterminen jeweils weiter
beschleunigt werden. Über den Kohlekompromiss hinaus sind konkrete Maßnahmen zur
CO2-Minderung im Verkehr, im Gebäudebereich, in Wirtschaft und Industrie sowie
in der Landwirtschaft unverzichtbar. Das Enddatum 2038 und die Festlegung auf
„frühestens 2035“ ist zu spät, um die Pariser Klimaziele zu erreichen, dies gilt
insbesondere auch für Sachsen-Anhalt.
Es braucht einen deutschlandweiten Kohleausstieg bis 2030.
Dafür kämpfen wir!
Die WSB wurde von der Bundesregierung nur eingesetzt, weil Deutschland seine
Klimaziele 2030 krachend verfehlen wird. Kohle ist hierfür ein wichtiges Symbol.
Aber wir stellen uns gesamt-politisch klüger auf, wenn wir das Thema Klimaziele
breiter aufstellen. Es geht darum unser aller Existenzgrundlagen zu sichern, um
nichts weniger. Zur CO2-Minderung müssen z.B. auch der Verkehrssektor, der
Gebäudebereich, Wirtschaft sowie Landwirtschaft, Forst und Ernährung sehr viel
beitragen. Wir müssen die Revisionstermine dafür nutzen, zu prüfen, welche CO2-
Einsparungen insgesamt erreicht werden konnten und in welchen noch mehr zu
erreichen ist. Dafür ist auch weiterhin der Druck der Zivilgesellschaft und der
progressiven politischen Kräfte nötig. Im Mitteldeutschen Revier muss gelten,
dass Dörfer erhalten bleiben, statt der Kohle zu weichen und keine neuen
Tagebaue erschlossen werden.
Die Renaturierung hat, nicht wie bisher mit allem was Gärtnerei und Baumschule
hergaben, sondern naturschutzfachlich sinnvoll mit standortangepasstem
einheimischem regionalen Saat- und Pflanzgut zu erfolgen. Bei Flutungen
ausgekohlter Tagebaue sind bei der bergbaulichen Sicherung naturschutzfachliche
Belange im Relief wie Schaffung von Inseln und Flachwasserzonen frühzeitig zu
berücksichtigen und umzusetzen. Dabei müssen auch Rückzugsräume für die Natur
entstehen, nicht jeder Tagebaurestsee muss touristisch erschlossen werden.
Der Strukturwandel muss schnellstmöglich beginnen, damit wir falls notwendig zur
Erreichung der Klimaziele 2030 noch vor 2035 aus der Kohleverstromung und
Kohleförderung aussteigen können. Für dieses klare Signal fehlte den
ostdeutschen Ministerpräsidenten leider der Mut.
Die Renaturisierungskosten müssen von den Unternehmen getragen werden, welche
auch die Gewinne des Kohleabbaus eingefahren haben und dürfen nicht auf die
Allgemeinheit abgewälzt werden. Wir kämpfen für die Einforderung der von der
MIBRAG abgegeben Garantien!
Die Weichen müssen jetzt gestellt werden
Der Strukturwandel muss nun beginnen, die Vorschläge der Kohlekommission sind
kein Freifahrtschein für ein entspanntes Zurücklehnen. Wir fordern die
Bundesregierung auf, die Beschränkungen beim Ausbau der Erneuerbaren Energien
sofort aufzuheben, ohne falsche Rücksicht auf die Kohlekraftwerksbetreibende zu
nehmen sowie Hindernisse bei der Sektorenkopplung umgehend abzuschaffen und den
Netz- und Leitungsausbau (HGÜ und konventionell) zu beschleunigen. Nur so kann
die Energiewende zu 100% Erneuerbaren Energien bei Strom, Gebäuden und Verkehr
gelingen. Wir setzen insbesondere auf dezentrale und bürgernahe
Energieversorgung durch erneuerbare Energien. Anlagentechnik und Know How bei
Erneuerbaren Energien und das Gelingen der Energiewende sowie neue Projekte zur
Energiespeicherung sollen sich künftig als Deutschlands neuer Exportschlager
etablieren. Die Region des Mitteldeutschen Reviers bietet Raum und Chancen zur
Lösung wichtiger Entwicklungsschritte im Bereich Energiewende. Dieses
technologisch außerordentliche Potential ist in Leuchtturmprojekten staatlich zu
fördern sowie entschieden und zeitnah auszubauen.
Ein großes Potenzial bietet auch die Kopplung zwischen Chemieindustrie und
Energieerzeugung. Chemieindustrie und Energiewende können gut Hand in Hand
gehen. Statt fossile Energieträger als Rohstoffe zu verwenden, können
Kunststoffabfälle und Biomasse dafür genutzt werden, um zusammen mit regenerativ
erzeugten Wasserstoff Produkte CO2-arm herzustellen. Große Elektrolyseure zur
Herstellung von Wasserstoff aus Wind- und Sonnenstrom und Langzeitspeicher
müssen zum Einsatz kommen.
Das Ziel einer verlässlichen Energieversorgung zu 100 % Erneuerbaren Energien
verlangt mehr Anstrengungen, um neue Technologien und die Lösungen für die
Speicherfragen in großtechnischem Maßstab zur Anwendung bringen. Ein
vollständiger Wechsel von Stein- und Braunkohle auf Gas - im Optimalfall Windgas
- würde in der deutschen Energiewirtschaft eine CO2-Emissionsreduktion von
mindestens 40 % mit sich bringen. Durch den zusätzlichen Ausbau von Erneuerbaren
Energien und eine Umrüstung auf Gas- und Dampfkombikraftwerke, die signifikant
höhere Wirkungsgrade erzielen, könnte die CO2-Emissionsreduktion noch deutlich
höher ausfallen. BÜNDNIS 90 /DIE GRÜNEN Sachsen-Anhalt wollen insbesondere die
städtischen Heizkraftwerke und Industriekraftwerke als Basis für einen
Brennstoffwechsel nutzen. Power-to-Gas und Power-to-Heat sind Schlüssel für eine
erfolgreiche Energiewende im großtechnischen Maßstab.
Um die Umrüstung von Kohlekraftwerken auf Gas voranzubringen muss der nach
Sektoren gestaffelte Preis für ein CO2-Zertifikat steigen, eingesparte CO2-
Zertifikate vom Markt genommen werden und insgesamt eine CO2-Bepreisung
eingeführt werden. Aktuell hat dieser Preis keinerlei Lenkungswirkung.
Zweifellos ist der Kohleausstieg mit dem Verlust von Arbeitsplätzen im
Kohlesektor verbunden. Dieser wäre jedoch deutlich geringer als der
Stellenzuwachs durch teilweise Umstellung auf Gasbetrieb, den stärkeren Ausbau
der Erneuerbaren Energien und bessere Zukunftsaussichten für den Export von
Anlagentechnik.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen-Anhalt fordern dringend eine länderübergreifende
Koordination von Strukturprojektenstatt der Abarbeitung einer willkürlichen
Auflistung von Schubladenprojekten. Wir brauchen Leuchtturmprojekte, die die
Energiewende und die Sektorenkopplung vorantreiben und zukunftsfähige
Arbeitsplätze in der Energiewirtschaft bereitstellen. Wir brauchen tiefgreifende
Infrastrukturmaßnahmen die das Mitteldeutsche Revier als Investitionsstandort
attraktiv machen, es sollen dabei aber vernetzte und wirklich durchdachte
moderne Mobilitätsprojekte für die Region entwickelt und umgesetzt werden. Dabei
setzen wir auf den Ausbau des Schienensystems, die Reaktivierung ehemaliger
Bahnstrecken und den Erhalt von Straßen statt dem Straßenneubau. Die wichtigste
Voraussetzung für das Mitteldeutsche Braunkohlerevier bleibt ein
flächendeckender Ausbau der Breitbandversorgung mit Glasfaser. Da die Zukunft
der Datenübertragung in Glasfasernetzen liegt, müssen Glasfaseranschlüsse und 5G
auch in der Fläche bei allen Haushalten ankommen und nicht nur in ausgewählten
Gewerbegebieten.
Das Mitteldeutsche Revier mit seinen zukünftigen Bergbaufolgelandschaften hat
ein großes Potential mit gezielten Naturschutzgroßprojekten seinen Beitrag zum
Erhalt der Artenvielfalt zu leisten, Strahlkraft für den Tourismus zu entwickeln
sowie als Wohnstandort und Naherholungsgebiet die Metropolbewohner*innen zu
gewinnen.
BÜNDNIS 90 /DIE GRÜNEN Sachsen-Anhalt wollen den Strukturwandel für neues Lehren
und Lernen im 21. Jahrhundert nutzen und fordern für die Menschen im
Mitteldeutschen Revier eine Bildungsoffensive. Auszubildende und
Berufseinsteiger*innen in der Kohle müssen ab sofort umfassend weitergebildet
werden, um zukünftig anschlussfähige Jobs in anderen Branchen ergreifen zu
können. Von der konkreten Bildungsinvestition über eine nachhaltige Umschulung
im Sinne eines lebenslangen Lernens bis hin zur Zweitausbildung ist für die
betroffenen Menschen regional Vorsorge zu treffen.
In vielen Bereichen der Wirtschaft, der Infrastruktur, der Technik, Verkehr oder
ähnlichem werden in den nächsten Jahren weltweit massive Umbrüche stattfinden.
Wir können in Sachsen-Anhalt Vorreiter sein. Dazu müssen wir im Süden des Landes
Räume schaffen, in denen Fördergelder unkompliziert zur Verfügung gestellt und
in denen Neues ausprobiert werden kann. Wo Wiederholung und auch Scheitern
möglich ist. Wir brauchen ein Labor für Smart Regions und innovative,
vorausschauende und integrierende Lösungsansätze, beispielsweise auch in Form
von Bürgerenergiegenossenschaften. Diese könnten einen überzeugenden Baustein
für die Beteiligung der Bürger*innen vor Ort darstellen.
Verlässlichkeit und Planungssicherheit für die Menschen in der Region
BÜNDNIS 90 /DIE GRÜNEN Sachsen-Anhalt stehen im Strukturwandelprozess für die
Interessen der Allgemeinheit und der nachfolgenden Generationen, deshalb geben
wir jetzt das Startsignal für einen nachhaltigen Wandlungsprozess der Region.
Wir haben vielfältige Chancen und Entwicklungspotentiale skizziert, die in der
Summe eine prosperierende Zukunftsregion ermöglichen und damit eine Blaupause
für die noch viel umfassenderen Energiewendemaßnahmen im gesamten Bundesgebiet
darstellen können. Wichtig ist, jetzt den Mut für die Umsetzung zu entwickeln,
sich die Gestaltung im Verbund mit der Bevölkerung und allen Interessengruppen
zuzutrauen und den Strukturwandel tatkräftig und zügig umzusetzen. Eine Planung
„von oben herab“ reicht dafür nicht aus.
Eine solche Kraftanstrengung, diesen Großprozess erfolgversprechend anzunehmen
und anzugehen wäre ein Novum im wiedervereinigten Deutschland – nicht zuletzt
deswegen gibt es dafür kaum einen besseren Ort als diese Region. Der
Strukturwandel für die gesamte bundesländerübergreifende Kohleregion bietet die
Chance, über den Burgenlandkreis und das Mitteldeutsche Revier hinaus die
gesamte Mitteldeutsche Metropolregion hin zu einem aufstrebenden Areal im
Zentrum Europas zu entwickeln, das zukünftig nicht mehr von Wegzug und
Überalterung, sondern von Aufbruchstimmung geprägt ist. Die ländlichen Räume der
Region bieten dabei einen Rückzugsort für Familien, während durch die UNESCO-
Weltkulturerbestätte in Naumburg, zahlreichen weiteren Kulturstätten und die
Renaturierung der Tagebaugebiete ein naturnaher Kulturtourismus ermöglicht wird.